Das Falkenried-Quartier: Waggons verdrängen Falken

 

Ein beeindruckender Wandel vollzog sich im Nachbarstadtteil Eppendorfs, der südwestlich angrenzt: Hoheluft-Ost. Zwischen den Straßen Falkenried, Lehmweg, Hoheluftchaussee und Eppendorfer Weg liegt ein Gelände, auf dem ganz früher Riedgräser im sumpfig-moorigen Boden wucherten und darüber nach Beute spähende Falken kreisten. Später stand hier die industrielle Wiege des Hamburger öffentlichen Nahverkehrs: die Fahrzeugwerkstätten Falkenried GmbH (FFG).

 

 

Die Produktion von Pferdebahnwaggons begann im Jahr 1889. Ihr folgten der Bau von elektrischen Straßenbahnen, U-Bahnwaggons, Bussen und ihre Instandsetzung. Ein erfolgreiches Unternehmen, das in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre immer wieder erweitert und modernisiert wurde. Daran hatten die Beschäftigten einen entscheidenden Anteil: Sie wohnten überwiegend in den langgestreckten Doppelzeilen dreigeschossiger Kleinwohnungshäuser zwischen Etagenhäusern an der Löwenstraße und am Falkenried, den sogenannten Falkenried-Terrassen; entstanden zwischen 1890 und 1903. Sie stellen bis heute die in Hamburg größte zusammenhängende Wohnhausform dieser Art dar. Damals galt es, menschenwürdige Unterkünfte für die schnell wachsende Industrie und die sprunghaft wachsende Einwohnerzahl zu entwickeln. Im Vergleich zu anderen Industriestädten war diese Form der Arbeiterwohnquartiere durchaus vorbildlich. In den 1970er Jahren allerdings galten sie als dunkel, unhygienisch und deshalb unbewohnbar. Ihnen drohte der Abbruch, den aber eine Bürgerinitiative mit Unterstützern aus der örtlichen Kommunalpolitik abwenden konnte. Die Häuser wurden unter Denkmalschutz gestellt und nach ihrer Instandsetzung durch die städtische Lawaetz GmbH sind sie heute ein Wohnort mit besonderer Atmosphäre. Die Bewohner sind organisiert in der Mietergenossenschaft Falkenried e.G.

 

Die Straßenbahn stellte in Hamburg 1978 ihren Betrieb ein. Die FFG hatte sich aber vom Hamburger ÖPNV unabhängig gemacht und entwickelte und produzierte innovative Einzelsegmente für Nahverkehrssysteme weltweit. Und zwar so erfolgreich, dass die Anlieferung von Rohstoffen und Auslieferung der Endprodukte über die Straßenquerschnitte, die für schienengebundene Straßenbahnwaggons ausgelegt waren, unmöglich wurde. Deshalb verlegte sie ihre Depots und Werkstätten zu Beginn der 1990er Jahre.  So wurde das ca. 5 Hektar große Gelände mit gut erhaltener, älterer Bausubstanz für neue Nutzungen frei.

 

 

 

Um das Alte in seiner Symbiose mit dem Neuen zu erkunden, bietet sich ein Rundgang durch dieses Quartier an.  Es entstand zwischen 1999 und 2004 nach einem europaweit ausgelobten städtebaulichen Wettbewerb, aus dem das Büro Bolles und Wilson mit Sitz in  Münster/NRW als Sieger hervorging. Wir starten aus den Terrassen zur anderen Straßenseite Falkenried. So wird uns die historische Nähe der Arbeiterwohnungen zu den Arbeitsplätzen in den Werkshallen der FFG bewusst. Der Wandel bewahrte hier Gebäude oder ihre Teile durch Wettbewerbsvorgaben, Entscheidungen des Preisgerichts und Festsetzungen in einem Bebauungsplan. Im Eingangsbereich am Falkenried wurden rechts das Pförtnerhaus aus dem Jahr 1927 und links das Hauptverwaltungsgebäude von 1892 unter Denkmalschutz gestellt. In anderen Gebäuden verschmolzen historische mit neuen Architekturen. Völlig neu entstanden markante Gebäude entlang einer Straße, die einen Großteil der alten,  inneren Werks-Erschließung übernommen hatte. An sie erinnert der Name „Straßenbahnring“ (S-Ring). Entlang dieser Straße erschließen wir uns die Baufelder und öffentlichen Freiflächen des neuen Stadtteilquartiers.  

Das Pförtnerhaus ist ein kleiner quadratischer Backsteintempel. Auf seinem Walmdachgipfel  thront ein grün oxidierter Kupferwürfel mit einem Hauch Art-deco, der an allen vier Seiten die Zeit auf Zifferblättern in Bahnhofsuhrendesign anzeigt. Auf der fünften oberen Seite ruht wiederum ein Würfel, der die jetzige Nutzung reklamiert: „marsbar“. Ihre mediterranen Speiseangebote lassen wir links liegen und beschreiten die langgestreckte, mit zwei Baumreihen bepflanzte sogenannte Piazza als ersten Teilabschnitt des S-Rings. Ihren nördlichen Rand flankiert die größte der ehemaligen Werkhallen, erbaut 1926-1930. Diese sogenannte Halle E beherbergte die zentralen Produktionsprozesse der FFG.  Die Architekten im Büro „LABFAC“ aus Paris erhielten die historischen roten Backsteinfassaden. Sie entkernten das Innere des Gebäudes  und installierten ein zweites Geschoss. Bis auf die neuen, großen Öffnungen in der Giebelwand wurden die Sprossenfenster in alter  Form erhalten, die die Fassaden im wechselnden Rhythmus gliedern. Sie lassen das Tageslicht von Süden und Westen auf die Arbeitsflächen der jetzigen Nutzer aus Medien-, Textil- und Küchenbedarfsbranchen fallen.

 

 

In dem städtebaulichen Konzept nimmt die Piazza zwischen der Halle E und den 14- und 7-geschossigen Hochhäusern von den Architekten Bolles und Wilson mit ihren Rotklinkerfassaden eine zentrale Stellung ein. Der Abstand zwischen diesen Hochhäusern bildet ein „Tor“. Es eröffnet einen Weg nach Süden zu einem kleinen Platz. Auf ihm stehen Sträucher, die ihre Energien zum Wachsen aus quadratischen, holzgerahmten Hochbeeten ziehen.  Ihre umlaufenden Sockel tragen Bänke, die vielen Menschen aus den platzrahmenden Büro- und Wohngebäuden Sitzflächen zum Pausenimbiss mit Klönschnack bieten. An ihnen vorbei gehen wir einer großzügigen Treppenanlage entgegen, die zwischen zwei Gebäuden hinab auf den Lehmweg führt. Ihn queren wir und gelangen in einen Grünzug am Isebekkanal.

 

 

Von dort blicken wir zurück. Der Büroriegel rechts der Treppe passt sich den bestehenden, sechsgeschossigen Gebäuden aus der Gründerzeit an, die die Straßenecke Lehmweg/Falkenried bilden. Seine horizontal gegliederte Rotklinkerfassade kontrastiert mit dem Wohngebäude der Architekten Baumschläger-Ebele aus Österreich links der Treppe. Das fällt mit einer raffiniert gestalteten, mehrschichtigen Fassade auf. Die Stockwerke werden durch schmale Stahlbänder nach außen betont. Die äußere Schicht zwischen den Stockwerken bilden stehende Schiebeelemente aus milchig  geätztem Glas. Sie sollen vor blendender Sonne und neugierigen Blicken schützen. Hinter ihnen liegen als zweite Schicht gläserne Balkonbrüstungen und in der Tiefe der Fassade stehen hölzerne, bodentiefe Fensterelemente. Sie gewähren Sichten auf den Isebekkanal. Beide Gebäude stehen auf einem Sockel, der die Tiefgarage aufnimmt. Über sie erhebt sich im Hintergrund der 17-geschossige Wohnturm als fernwirksames Wahrzeichen. Auf dem Rückweg nehmen wir am Straßenrand des Lehmwegs den beachtlichen Höhenunterschied zur Quartiersebene wahr, den wir nach der Überwindung der vierzehnstufigen Treppe auch in unseren Knien spüren.

 

 

Wieder auf der Piazza, erkennen wir, dass sie das  Zentrum des neuen Quartiers und wesentlicher Bestandteil der Wegebeziehungen zwischen dem Falkenried und den Geschäften an der Hoheluftchaussee ist. Der Wohnturm steht in unmittelbarer Verbindung zu einem von 3 auf 5 Geschosse langestreckt ansteigenden Büroriegel mit durchlaufenden Fensterbändern auf einem zurückgesetzten Erdgeschoss. An ihm gehen wir entlang in Richtung Westen und merken, wie kompromisslos gerade er ist. Das Ende des nun 5-geschossigen Riegels schafft mit einem kurzen 90° Winkelknick  nach Südwesten und mit einem weiteren in Richtung Westen eine Platzerweiterung. Wer sich auf einer Bank zwischen zwei Bäumen niederlässt, kann den lebhaften Wechsel der Passanten zwischen Falkenried und Hoheluft beobachten. Dieser etwas überraschende Platz wird von zwei Büro- und Geschäftshäusern räumlich gefasst. Das erste begrenzt zweigeschossig seine Südwestseite als die abgewinkelte Fortsetzung des langestreckten  Riegels, der seinen Schlusspunkt in einem 6-geschossigen Geschäftshaus an der Hoheluftchaussee mit farbigen, rot dominierten Fassadenelementen (Architekten: Bolles und Wilson) findet: dem Green Office/Yellow Office. Das zweite begrenzt seine Nordseite. Vom S-Ring fällt es von 4 auf 3 Geschosse in Richtung Südwesten ab (Architekten: Renner, Heinke, Wirth). Zusammen bilden sie den Durchgang zur Hoheluftchaussee.

 

 

Hier tauchen wir kurz ins quirlige Geschäftsleben, wenden uns dann zurück zum S-Ring und folgen ihm in nördliche Richtung.  Er macht nach ein paar Schritten, vorbei an der Westfront der zentralen Halle E, an der wir das Firmenlogo des Medienunternehmens erkennen, eine Kurve nach Osten. Kurz danach stehen wir vor einem erhaltenen 3-geschossigen Backsteingebäude, das die Werkserschließungsstraße überbrückt. Offensichtlich sollte es die   Produktionsbeziehungen zwischen der zentralen Werkshalle E mit den ehemaligen Hallen im Norden des S-Stieg gewährleisten. Auf ihm hat sich als viertes Geschoss ein Loft in blanker Metallhaut niedergelassen. Die Geländer und Fenster der Loggien sind aus spiegelndem Glas. Die Durchfahrtshöhe dieses Brückengebäudes eröffnet uns einen Blick auf ein im Hintergrund quer zum S-Ring liegendes, mehrgeschossiges Wohnhaus, dessen Dachlandschaft ebenfalls anziehend metallisch glänzt und einen Sog zur Annäherung ausübt. Dieser Entdeckungslust aber geben wir noch nicht nach, sondern biegen vom S-Ring links ab in seinen S-Stieg.

 

 

Der Zugang wird gerahmt von zwei Erinnerungsstücken aus der Zeit der genieteten Stütz- und Trägerelemente, die aus den Wirren der Entkernung der alten Werkshallen gerettet wurden. Das Besondere dieses Stiegs macht die sehr ideenreiche Art seiner Bebauung durch die Architekten Spengler/Wiescholek aus. Hinter zwei gegenüberstehenden, erhaltenen Außenwänden ehemaliger Werkshallen mit ihren Toröffnungen und Türflügeln stehen, wie mit einander verklebt, vollständig neue drei- bis dreieinhalb-geschossige Stadthäuser, als wäre in den alten Werkhallen neue, lebendige Familienarbeit erwacht. Die Werkhalle, die an der Ostseite des Stiegs stand, war mit dem erhaltenen Gebäude verbunden, dessen Brückentor wir, aus dem Stieg kommend, links durchschreiten.

 

 

Vor uns liegt nun ein gerader Abschnitt des S-Rings, der links von 26 Stadthäusern in einer Doppelreihe begleitet wird. Im Verlauf seiner rechten Seite schirmen Bäume Parkplätze in Verbindung mit einer Straße ab, über die der An-und Ablieferverkehr für die Nutzer der Halle E abgewickelt wird. Bevor der S-Ring links abbiegt, hat uns die wohl spektakulärste Wohnhausfront dieses Quartiers angesogen und unsere Blicke auf sie gelenkt. Erd- und erstes Obergeschoss werden nach außen durch schmale, weiße Betonteile betont. Sie sind horizontal weitgespannt und vertikal markieren sie die Breite der Wohnungen. Dieses Fassadengitter ist ausgefacht mit gläsernen Brüstungen und verschiebbaren, hölzernen Lamellenelementen. Hinter ihnen liegen großzügige Loggien, die man aus den Wohnräumen durch bodentiefe Fenster- und Türelemente betritt. Das dritte Geschoss macht den Eindruck, als müsse es sich mit seiner breiten, aus Stahlblech verkleideten Deckenbrüstung für das stark machen, was die Hamburger Architekten Bothe, Richter, Teherani auf ihm haben laden lassen. Es sieht aus, als wäre dort ein „ICE-Waggon abgestellt worden: eine metallene Momentaufnahme von Dynamik und Zeitgeist“ schreibt der Architekturkritiker Dirk Meyhöfer. In diesem futuristisch anmutenden Gehäuse wird in fließenden Räumen auf zwei Geschossen gelebt. Weil diese Wohnungen dem Himmel etwas näher zu sein scheinen, werden sie auch „Himmeldecks“ genannt. Mit der Frage, ob das Ganze eine Erinnerung an die ehemalige Waggonbaufabrik darstellen soll, wenden wir uns wieder dem S-Ring zu und stehen hinter der doppelten Stadthauszeile vor einer Treppe, die über eine Tiefgaragenzufahrt auf eine höher gelegene Garten- und Spielplatzebene führt. Auf ihren Stufen sitzen Mitarbeiter der Unternehmen in der Halle E. Sie genießen in der Mittagssonne Kaffee und Zigarette. An ihnen vorbei, mäandrieren wir mit dem letzten Abschnitt des S-Ring nach links und wieder nach rechts.

 

 

Dieser Mäander inspirierte das  Architekturbüro APB zu einer 5-geschossigen Wohnanlage, deren Baukörper sie vom Falkenried gegenläufig an der linken Seite des mäandrierenden S-Rings entwarfen. Mit dieser Form schufen sie sehr private, nach Süden und Westen offene Innenhöfe. Ihre Fassaden im Kontext der zwanziger Jahre strahlen in hellrotem Ziegelmauerwerk, die von geschoßhohen Fenstern gegliedert werden. Im Erdgeschoss fallen die eng stehenden Eingangstüren auf. Ein Zeichen dafür, dass die Erdgeschosswohnungen über zwei Geschossebenen genutzt werden können. Und wer seinen Blick nach oben zum Dachgeschoss richtet, dem fällt auf, dass dort Wohnungen mit Gärten entstanden sind. Mit dem Mäander münden wir in den Falkenried. Erst jetzt springt uns die Rotklinkerfassade des 1928 zwischen dem Pförtnerhaus und der Einmündung des S-Rings entstandenen Wagonwerkgebäudes ins Auge. Ihre stehengebliebene, dreigeschossige Fassade ist in der Tradition der hanseatischen Moderne gehalten. Dahinter wandelte sich das entkernte Gebäude zum Wohnhaus mit dem „ICE-Wagon“ auf dem Dach. Seine Wohnungen waren und sind begehrt und teuer. Vor dieser Gebäudekulisse beenden wir unseren Rundgang.

Bevor wir uns verabschieden, resümieren wir unsere Eindrücke: Überraschende Abfolgen großer und kleiner begrünter Plätze; Durchgänge und große Durchfahrt; Treppen und Treppenanlagen; geradlinige und verwinkelte Räume; spannende Durch- und Ausblicke; Gebäude von verschiedenen Architekten gestaltet und daher abwechslungsreich. Der Wandel vom Jagdrevier der Falken über einen  Waggonbaubetrieb zu einen gemischten Gewerbe- und Wohnquartier ist mit Respekt vor dem historischem Erbe städtebaulich und architektonisch gelungen, aber nicht für jeden bezahlbar – ausgenommen diejenigen, die von der Mietergenossenschaft Falkenried aufgenommen werden.